«Man lässt die Leute nicht sterben» – Suzanne Tanner im Gespräch

Suzanne Tanner koordiniert das «amm Café Med» am Standort Basel. Zudem betreute die amm-Mitglieder und deren Anliegen seit der Gründung des Vereins Akademie Menschenmedizin bis Ende 2023. Warum engagiert sich die ausgebildete Intensivpflegefachfrau für die Menschenmedizin?

 

 

Suzanne Tanner, wie sind Sie zur amm gekommen?

 

Mein Mann und ich haben das Ehepaar Hess in Tansania kennengelernt, wo wir beide einige Jahre tätig waren. Das Konzept der Menschenmedizin, das die beiden entwickelt und später umgesetzt haben, hat mich von Anfang an überzeugt, und als sie die amm ins Leben riefen, war für mich klar, dass ich das in irgendeiner Form unterstützen möchte. 

 

Die amm setzt sich für eine menschengerechte Medizin ein. Das heisst ja im Umkehrschluss, dass die Medizin heute zu wenig menschengerecht ist. Wo sehen Sie Anzeichen für diese Diagnose?

 

Am deutlichsten ist es meines Erachtens im Umgang mit dem Tod. Eine Intensivpflegestation war schon high-tech, als ich dort vor 30 Jahren gearbeitet habe, heute ist sie es noch um ein Vielfaches mehr. Man kann das Leben eines Menschen sehr weitgehend künstlich verlängern. Und was machbar ist, wird eben tendenziell auch getan: Man lässt die Leute nicht sterben, selbst wenn sie es wollen.

 

Das heisst, es kann menschlicher sein, eine Patientin oder einen Patienten bewusst sterben zu lassen, als sie oder ihm am Leben zu halten?

 

Ja, das ist tatsächlich so. Meine Schwiegermutter war mit 91 Jahren wegen eines Beckenbruchs im Spital. Sie wollte keine lebensverlängernden Massnahmen und hatte eine entsprechende Patientenverfügung, und wir haben als Angehörige auch noch einmal klar gesagt: Im Fall der Fälle nichts Invasives, keine Intensivpflege. Als ich eines Abends von Besorgungen zurückkam, war das Patientenzimmer leer – prompt war sie auf der IPS, wegen eines Kreislaufzusammenbruchs, wie man mir mitteilte. Auf meine Frage, warum sie gegen ihren und unseren Willen nun doch in Intensivpflege war, sagte die verantwortliche Ärztin, eine junge Frau: «Aber sie wäre uns doch sonst weggestorben!». Sie haben dann einfach 15 Liter Wasser in sie reingepumpt, dadurch war sie 15 Kilo schwerer, blieb noch drei Wochen im Spital für Tausende von Franken pro Tag, dann Reha. Sie hat noch ein halbes Jahr gelebt und uns jeden Tag gefragt: «Warum habt ihr mich nicht gehen lassen?» Ich konnte ihr die Frage auch nicht zufriedenstellend beantworten. Menschlich wäre es gewesen, ihren Willen ernst zu nehmen und zu berücksichtigen.

 

Was muss passieren, damit sich hier etwas ändert? 

 

Mir scheint, die Ethik muss in der ärztlichen und pflegerischen Ausbildung einen grösseren Stellenwert einnehmen. Die Aussage der jungen Ärztin ist doch vielsagend: Sie scheint noch nie in Frage gestellt zu haben, ob Leben immer besser ist als Sterben. Dabei ist die Frage ebenso komplex, wie sie in der Medizin zentral ist. Die dominante Devise ist offenbar immer noch – oder vielleicht mehr denn je – Leben retten um jeden Preis. Es sind aber nicht nur die Spitäler und Mediziner: Oft stehen auch die Angehörigen dahinter, alles machen lassen zu wollen, was noch irgendwie geht.

 

Was können Leute, die in solchen Fragen etwas bewegen wollen, von einer amm-Mitgliedschaft erwarten?

 

Eben genau, dass eine fachlich gut aufgestellte Organisation da ist, die dafür sorgt, dass die unangenehmen Fragen gestellt werden und problematische Entwicklungen in der Medizin nicht unter dem Radar laufen und unhinterfragt zu Selbstverständlichkeiten werden. Ganz konkret finanzieren die Mitgliederbeiträge zum Beispiel das Sekretariat. Die amm ist sehr stark ehrenamtlich geprägt, diese Entlastung durch feste und bezahlte Strukturen finde ich sehr wichtig. Wenn jetzt noch mehr junge Mitglieder dazustossen und sich auch einbringen und die amm in der ganzen Schweiz so gut aufgestellt ist wie heute in der Region Zürich, kann sie langfristig eine wichtige Rolle in der Debatte um das «richtige» Gesundheitswesen spielen.

 

Interview: Stephan Bader