Dreieinhalb Fragen an amm-Beirat Manuel Battegay

Prof. Dr. med. Manuel Battegay war bis zum 1. April 2023 Chefarzt der Klinik für Infektiologie & Spitalhygiene am Universitätsspital Basel und Professor für Infektiologie an der Universität Basel.

1. Sie sind neu im Beirat der amm. Was hat Sie bewogen, diese Aufgabe zu übernehmen?

 

Konkret wurde ich von Prof. David Nadal angefragt. Mich hat sein persönliches Engagement und wofür sich die Akademie Menschenmedizin einsetzt, nämlich individuelle, interprofessionelle Behandlungsprozesse in der Betreuung miteinzubeziehen, überzeugt. Ich habe seit meiner Jugend ehrenamtliche Aufgaben übernommen: für Stiftungen wie die Basler AIDS-Stiftung, pro-patient oder Pflegewissenschaften Schweiz, aber auch in internationalen Organisationen wie der European AIDS Clinical Society (EACS) oder der Western-Eastern European Partnership Initiative for HIV, Tuberculosis and Viral Hepatitis. Besonders intensiv, aber auch eindrücklich war das ehrenamtliche Engagement als Präsident der Israelitischen Gemeinde Basel in einer Krisensituation.

 

2. Wo sehen Sie Handlungsbedarf, wenn die gelebte Praxis der Idee der Menschenmedizin näherkommen soll?

 

 

Medizin hat sich seit Jahrzehnten extrem und nachhaltig verändert. Die Corona-Pandemie hat uns eindrücklich gezeigt, wie vernetzt Prozesse einzelner Krankheiten mit dem Gesundheitswesen, mit einer Wertehaltung in der Gesellschaft und mit dem Leben des Menschen verbunden sind.

 

Dennoch sind die fundamentalen Veränderungen im Gesundheitswesen vielen Menschen, auch politischen Entscheidungsträgern, nicht bewusst. Um ein Beispiel zu nennen: Als ich als Assistenzarzt zu arbeiten begann, betrug die durchschnittliche Hospitalisationszeit in Schweizer Spitälern zwischen 14 und 18 Tagen. Aktuell beträgt sie noch 5 bis 7 Tage. In einem Akutspital hospitalisiert werden vor allem Menschen mit komplexer Problematik. Die Verdichtung in Akutspitälern, aber auch in Praxen, setzt interdisziplinäre und interprofessionelle Teamarbeiten voraus, gerade um der unglaublichen Vielfalt von Krankheitsbildern und der Individualität eines betreuten Menschen gerecht zu werden. Als besonders wichtig und dringend sehe ich im Moment konkrete Massnahmen im Hinblick darauf, genügend Gesundheitspersonal aus- und weiterzubilden und gute, motivierende Arbeitsbedingungen zu gewährleisten, ­­– nicht zuletzt aufgrund des Bevölkerungszuwachses. Wir müssen aber aufpassen, nicht zu Vieles schlecht zu reden. Das US-Magazin «Newsweek» hat soeben 2’300 Spitäler in 28 Ländern bewertet (World’s Best Hospitals 2023). Mit den Universitätsspitälern Zürich, Lausanne und Basel – dieses Jahr auf den Plätzen 12,14 und 15 – sind gleich drei Schweizer Spitäler wiederholt unter den allerbesten Spitälern weltweit. Und auch der Hausarztmedizin sollte ein sehr gutes Zeugnis ausgestellt werden. Ich nehme an, dass zum Beispiel die sehr gute Betreuung und damit Einstellung auf die Risikofaktoren einer der Hauptgründe einer im Vergleich zu anderen Ländern tieferen Fallsterblichkeit durch das Coronavirus war. 

 

3. Wenn Sie darüber entscheiden könnten: Welche konkrete Änderung oder Massnahme würden Sie am Gesundheitswesen in der Schweiz vornehmen und warum?

 

Ich möchte hier nicht im Detail auf einzelne Änderungen und Massnahmen eingehen. Wir brauchen aber generell und schnell bessere Daten, Stichwort Digitalisierung im Gesundheitswesen, um die Sachlage besser zu analysieren und klare Entscheide zu treffen, wenn Anpassungen nötig sind. Andere Länder haben es vorgemacht: Zuerst geht es darum, mit Entscheidungsträgern zu analysieren, was kurz-, was mittel-, und was langfristige Änderungen sein sollten. Dann, dies breiter zu diskutieren und der Bevölkerung bewusst zu machen.


Können Sie das doch anhand eines Beispiels erläutern?

 

Erklärungen, warum zum Beispiel Notfallstationen schweizerischer Spitäler so häufig angelaufen werden, sind meist nicht falsch, greifen aber häufig zu kurz. Aus meiner Sicht ist dieses Phänomen zumindest in Teilen der medizinischen Komplexität geschuldet, die in der Bevölkerung auch wahrgenommen wird. Das britische Gatekeeper-Modell, also der Ansatz, dass der Zugang zu spezialisierter Medizin nur mit dem «Passierschein» eines Allgemeinmediziners möglich ist, hat diesbezüglich versagt. Dieses strikte Vorgehen ist weder gut noch effizient, denn aufgrund der Vertiefung des Wissens entstehen nicht selten Situationen, wo Patienten und Patientinnen gut spüren, wann Grenzen der Expertise erreicht sind. Das unterminiert das Vertrauen und ist zudem nicht effizient. Da ziehe ich das schweizerische Hausarztverständnis vor, denn dieses passt sich mit grösseren Gruppenpraxen, welche auch eine Spezialisierung erlauben, den Gegebenheiten an. Gut wäre, wenn diese Entwicklung mit grösseren Praxen und vertiefter Expertise vermehrt den Notfalldienst nachts und am Wochenende betreffen würde. Denn es wäre wichtig, Expertise und Strukturen so aufzubauen, dass die Hausärzte und -ärztinnen weiterhin einen grossen Teil der Notfallbetreuung im Gesundheitswesen übernehmen. Wir sollten auch andere Modelle in anderen Ländern anschauen, z.B. wie in Dänemark Zuweisungswege auf Notfallstationen definiert werden.

 

Sehr dringende Massnahmen sind im Bereich der Digitalisierung notwendig, um unnötige Bürden der Administration wieder abzubauen. Mittelfristig müssen Incentivierungen diskutiert werden, um die Gesundheitsbetreuung effizienter zu gestalten. Schliesslich gilt es bereits jetzt, den langfristigen Prozess anzustossen, weniger, dafür grössere und besser ausgestattete Spitäler einzurichten, unter anderem um Akutpatient*innen gut betreuen zu können, in deren Behandlung Teams aus bis zu 25 Einheiten involviert sind.

 

Die Pandemie hat uns eindrücklich gezeigt – und die Schweiz hat diese nicht schlecht bewältigt – dass ein Umsetzen von Massnahmen nur möglich ist, wenn diese breit diskutiert werden und breite Teile der Bevölkerung involviert sind. Ziel muss eine hochstehende, individualisierte Medizin sein, die für Krisen gewappnet ist.