Prof. Dr. med. David Nadal im Gespräch

Der renommierte Kinderarzt und Infektiologe David Nadal hat eine neue amm-Arbeitsgruppe zu Kostenfragen in der Onkologie formiert und kandidiert an der kommenden Generalversammlung der amm für die neu zu schaffende Position als Co-Präsident. Im Gespräch stellt Nadal sich und seinen Blick auf die Medizin von heute vor.

 

 

Herr Nadal, Sie sind Kinder- und Jugendmediziner. Dieses Fachgebiet ist selten im Gespräch, wenn über Fehlentwicklungen im Gesundheitswesen gesprochen wird. Gibt es spezifische Missstände in diesem Bereich?

 

Ich würde nicht unbedingt von Missständen sprechen. Aber die Neonatologie, wo wir extreme Frühgeburten am Leben erhalten können, hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht. Die Entscheidungen, die dort getroffen werden müssen, gehen an den Kern der Menschenwürde. Ansonsten gebe ich Ihnen recht: Kinder gehen in der Diskussion um Medizin tendenziell etwas unter. Der Grund, warum ich mich bei der amm engagiere, liegt aber nicht speziell in meinem Fachgebiet.

 

Warum dann?

 

Für mich sind zwei Punkte entscheidend, die grosse Herausforderungen mit sich bringen. Zum einen, dass bei der zunehmenden Technisierung der Medizin eine gemeinsame Sprachebene zwischen Arzt und Patient als zentrales Element der Behandlung erhalten bleibt. Der Patient wird mit Informationen und Formularen überflutet und braucht Hilfestellungen. Aber auch als Arzt stellt sich die Herausforderung: Wie schaffe ich es, immer so à jour zu sein, dass ich alle Behandlungsoptionen verständlich erklären kann? Dass es hier Lücken und Bedürfnisse gibt, zeigt ja nicht zuletzt der Erfolg des amm Café Med, an den ich, das muss ich zugeben, in diesem Masse anfangs nicht geglaubt habe.

 

Und der zweite Punkt?

 

Der betrifft die ganz grundsätzliche Frage: Welche Medizin wollen wir verfolgen? Heute steht in der Forschung die Spitzenmedizin im Fokus, es gibt einen Hang zu teuren Therapien für sehr komplizierte Krankheitsbilder, die wenige Menschen betreffen. Ganz viele Menschen haben aber das Bedürfnis nach ganz einfachen Behandlungen, mit altbewährten Antibiotika zum Beispiel, und da gibt es zu wenige Studien – weil sich die Forschung nicht lohnt.  So eine Zukunft können wir uns nicht leisten.  Hier braucht es z. B. neue Formen der Zusammenarbeit mit der Industrie.

 

Wie könnte diese Zusammenarbeit aussehen?

 

Einfach wird es nicht! Ohne die Pharmaindustrie geht es nicht, sie ist ein wichtiger Fortschrittstreiber und dass sie solide abklärt, ob sich ein Medikament voraussichtlich lohnen wird, ist legitim, die Entwicklung ist schliesslich teuer. Aber wenn eine Behandlung 250 000 Franken kostet, muss man sich schon bewusst sein, dass man für denselben Preis Tausende Impfungen oder Aspirintabletten verschreiben könnte. Das wichtigste ist auch hier eine gemeinsame Sprache von Arzt und Patient. Wenn diese den Rahmen abstecken, muss auch die Industrie mitmachen. Die Gesellschaft muss die Stossrichtung vorgeben.

 

In welcher Rolle sehen Sie die amm, wenn es darum geht, diese Herausforderungen anzugehen?

 

Es kann nicht eine Gruppe alle Problemstellungen in Medizin und Gesundheitswesen bearbeiten und lösen, auch nicht die Akademie Menschenmedizin. Die amm soll Vermittlerin und Organisatorin sein, die Fachleute zum Gedankenaustausch zusammenbringt, wie man die Zukunft der Medizin gestaltet. Die Lösung ist nicht einfach – aber Akademie heisst ja auch: etwas lernen. 

 

Das tönt bescheiden.

 

Aber genau darum geht es. Die Gesellschaft muss die Massstäbe setzen, in welche Richtung im Gesundheitswesen geforscht und investiert werden soll. Sie

darf nicht Spielball der Industrie sein. Wenn wir in fünf oder zehn Jahren über die amm einige solche Massstäbe entwickelt haben, wäre ich fürs erste zufrieden.

 

Zum Beispiel in Bezug auf extrem teure Krebsmedikamente? Schon kurz nach Ihrer Zusage, sich im amm-Präsidium zu engagieren, haben Sie eine neue Arbeitsgruppe gegründet, wo es um Kostenfragen in der Onkologie geht.

 

Die Onkologie in der Pädiatrie hat enorme Fortschritte gemacht: Leukämie zum Beispiel kann heute zu über 80% sehr gut behandelt werden. Neue Krebsmedikamente sind aber sehr teuer. Folgt daraus, dass man diese Medikamente nur in entwickelten Ländern einsetzen kann, weil nur diese Gesellschaften sich die Preise leisten können? Wollen wir das? Wollen wir überhaupt, zugespitzt formuliert, teure Therapien einsetzen, um ein halbes Jahr länger zu leben, u.U. mit enormen Nebenwirkungen? Hier fehlen gesellschaftliche Vorgaben, wohin es gehen soll. Diese Diskussion, als Beispiel, wollen wir aktiv anstossen.

 

Das beinhaltet dann auch, dass die Frage, in gewissen Situationen auf eine mögliche lebensverlängernde Behandlung zu verzichten, erlaubt sein muss.

 

Absolut. Eine qualitativ hochstehende Medizin heisst nicht, alles medizinisch Mögliche auch zu machen. Das muss Grenzen haben, wie auch die Natur Grenzen hat. Die Natur ist nicht fair, wir können ihre Grenzen nivellieren, aber nicht beseitigen. Einige Menschen entwickeln Krebs, andere nicht. Wenn wir behaupten, das ändern zu können, dann machen wir uns etwas vor. In der amm-Charta werden die Grenzen des Lebens genauso wie diejenige des medizinisch Machbaren und des ökonomisch Möglichen thematisiert.

 

Das Gespräch führte Stephan Bader.

 

Über Prof. Dr. med. David Nadal

Prof. Dr. med. David Nadal ist Spezialarzt für Kinder- und Jugendmedizin und für Infektionskrankheiten. Von 1991-2017 leitete er die Abteilung Infektiologie und Spitalhygiene des Universitäts-Kinderspitals Zürich und war von 2000 bis zu seiner Emeritierung 2017 ausserordentlicher Professor für pädiatrische Infektionskrankheiten an der Universität Zürich. 2010 gründete er das Forschungszentrum für das Kind (FZK) des Universitäts-Kinderspitals Zürich, 2013 SwissPedNet, ein landesweites Netzwerk für pädiatrische klinische Forschung. Seit 2013 ist Nadal Einzelmitglied der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). 

 

Im Rahmen der amm engagiert sich David Nadal seit 2017 ehrenamtlich als Experte im unabhängigen und kostenlosen Beratungsbistro «amm Café Med» und rief 2019 eine neue amm-Arbeitsgruppe ins Leben, welche die Kostenfrage in der Onkologie problematisiert. Seit November 2019 ist Nadal Co-Präsident der amm.